Gasthaus zum Löwen
Die bevorzugte Wirtschaft meines Heimatortes war der „Löwen“. Hilda Schmid war die Wirtin, eine Jugendfreundin meiner Mutter. Nach den üblichen Sonntags-Spaziergängen saß ich mit den Eltern und Brüdern des Sommers oft im Biergarten gegenüber des Gasthauses unter den vier dicken Kastanienbäumen.
Die standardmäßigen eisernen Klappstühle standen um runde Blechtische auf Kiesboden. Vor der hölzernen Hinterwand gab es eine Kegelbahn wie in anderen Lokalen auch. Da donnerten am Wochenende die schweren Holzkugeln auf der Bretterbahn, bevor sie in die massive Gruppe der Kegel krachten.
Der Getränke-Nachschub kam per Serviermädchen über die Hauptstraße, auf der alle paar Minuten mal ein Verkehrsteilnehmer auftauchte. PKWs gab es wenige zu Vorkriegszeiten, Motorräder schon mehr. Auch bäuerliche Kutschen bzw. „Bernerwägeli“ waren nicht selten sonntags, Heuwagen oder Holzfuhrwerke prägten das Straßenbild wochentags.
Der alte Löwenwirt betrieb eine Brauerei im Keller des Gasthauses, er hatte einen Eisweiher auf seinen Matten und einen Eiskeller am Fuß des waldigen Hügels. Auf dem gefrorenen Eisweiher spielten zu meiner Schülerzeit die Kameraden eine Art Eishockey mit alten Spazierstöcken und einem hölzernen Fasspfropfen als Puck, nur wenige Buben hatten ein Paar Schlittschuhe vom Typ „Absatzreißer“, die an normalen Schuhen per Schraubgewinde befestigt wurden. Mit einem kleinen abgewinkelten Schlüsselchen drehte man die Sohlenklemmen fest, nicht selten gingen die „Erkeli“ genannten Schüssel im Schnee verloren. Dann musste man beim Schlosser ein neues machen lassen..
Im Brauereikeller hatte ich als 10-jähriger hin und wieder das Vergnügen, in ein leeres Fass zu kriechen und mit viel kaltem Wasser und Schruppbürste das Fass innen zu scheuern und zu putzen. Eine kleine Glühlampe pendelte vom Spundloch und brannte mich gelegentlich am Haarschopf.
In der Brauerei hingen schwere kupferne Schöpfkellen an der Wand, Brauerei-Gerätschaften aus alten Zeiten standen in der Ecke, Zuber, Maschinen und Pressen zur Most-Herstellung füllten den Raum, dessen Steinboden mit Ablaufrille gerade eine Handbreit über dem Wasserspiegel des Gewerbekanals lag. Beim Mosten des Fallobstes half ich gelegentlich mit, am liebsten an der Presse.
Meine Mutter war schon bei dem Bierbrauer mit andern Nachbarsmädchen und -Frauen zu Diensten beim Hopfenzupfen, wobei die Hopfenblüten von den Ranken gezupft wurden in heiterer Gesprächs- oder Gesangsrunde des Abends.
„Hopfe zupfe, Stiel dro losse, wer’s nit kann, soll’s bliebe losse“ war ein gängiges Sprichwort damals. Volkslieder wurden dabei an die nächste Generation weitergegeben, aber zu später Stunde auch Geistergeschichten und alte Sagen erzählt. Die Hopfenranken wurden vom Bodensee oder von Nordbaden geliefert.
In der Gaststube stand ein langer Stammtisch vor der Theke, an dem abends die Handwerker ihren Feierabend- oder Kundenschoppen tranken und am Sonntag nach der Messe die Tal-Bauern bei Bier und Brezeln saßen und das Tagesgeschehen oder die Wetteraussichten besprachen.
An den Fenstern zur Hauptstraße waren kleinere 6er-Tische platziert, an der Wand gegenüber stand der große, sandfarbige Kachelofen mit umlaufender Sitzbank, wo Sonntag nachmittags der „Geistliche Rat“, sprich Stadtpfarrer, mit dem Wirt und einem Hofbauern „Cego“ spielten. Der alte Löwenwirt hatte immer ein farbiges Rundkäppchen auf dem Kopf.
Im anschließenden großen Nebenzimmer fanden Familienfeste, Bälle und andere kulturelle Ereignisse statt, die freiwillige Feuerwehr feierte regelmäßig ihre jährliche, erfolgreiche Feuerwehrübung unter Mitwirkung der Stadt- und Feuerwehrkapelle, Fastnachtsveranstaltungen aller Art, Konzerte, Tanzkurse und Vereinsversammlungen wurden dort abgehalten.
Die Wirtin stand hinter der Theke bzw. servierte den Stammtischgästen, mit gelegentlichen Ermahnungen an solche, die ordinär oder zu laut wurden. Für größere Besuchermassen wurden Aushilfskräfte eingesetzt, ausschließlich langjähriges Stammpersonal. Ebenso verhielt es sich in der Küche, bewährte Köchinnen und Helferinnen sorgten für gleichbleibende Qualität und pünktliche Fertigstellung bei Großveranstaltungen.
Eigene Kühe im Stall der Zehntscheuer gegenüber versorgten die Küche mit Milchprodukten, ebenso der Garten hinter dem Gasthaus für frisches Gemüse, jenseits des Kanals, über den ein schmaler Steg führte. Die Magd Amalie betreute beide Selbstversorger-Abteilungen ihr ganzes Arbeitsleben. Beim Heuen der Wiesen um den Eisweiher spielte sie eine zentrale Rolle, mein größter Spaß war das Beladen des Heuwagens und die Heimfahrt, hoch oben auf demselben.
Der Herr des Hauses, Hans Schmid, Elektromeister, agierte bei Bedarf auch am Zapfhahn oder sorgte für die notwendigen Fass-Anschlüsse, bei der Stadtkapelle spielte er Trompete.
Ein paar Gästezimmer im ersten Stock boten sich an für Feriengäste, manchmal waren sie belegt von Verwandten.
Nach dem Hinscheiden der Wirtin wurde das Gasthaus modernisiert und ein neuer Betreiber eröffnete ein Ristorante.
(Lothar Sonntag 2014)